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Spurensuche in Sterkrade
Sterkrader Polizeisergeanten 1899 © Archiv K.v.Dellen |
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Beginn der Spurensuche Als ich 1999 mit den Recherchen zu meiner Familiengeschichte begann, standen mir genealogische Unterlagen meines Vaters zur Verfügung, mit denen ich die Spur der Familie Lehnkering bis in die Zeit um 1600 zurückverfolgen konnte. Seine Vorfahren lebten damals in der Region um Diepholz bei Bremen. Nach Umwegen über die Niederlande (der Großvater meines Vaters wurde als Sohn eines Rheinschiffers in Arnheim geboren) wurde ein Zweig der Familie etwa Mitte des 19. Jahrhunderts im Ruhrgebiet ansässig. Familie Lehnkering in Sterkrade
Als Handwerker und Kaufleute gehörten meine Vorfahren zum unteren und mittleren Bürgertum. Augenscheinlich legte die Familie Lehnkering - wie viele Familien aus diesem Milieu - Wert darauf, sich von der Bevölkerungsmehrheit der Arbeiterschicht abzugrenzen. Wie das Familienfoto zeigt, imitierte man den Lebensstil des höheren Bürgertums und stellte dies unter anderem durch entsprechende Kleidung zur Schau. Ein weißes Hemd mit Manschetten, ein steifer Vatermörder-Kragen und eine goldene Taschenuhr mit Kette gehörten zu den äußeren Insignien des erstrebten Aufstiegs. Entsprechend stolz waren die Lehnkerings auf die angesehene Verwandtschaft in Duisburg-Ruhrort. Ein Neffe meines Urgroßvaters, der Kommerzienrat Carl Lehnkering, hatte dort 1872 eine Spedition und Reederei gegründet. Er gilt als eine der Gründerpersönlichkeiten, die durch ihre Initiative den Innenhafen von Duisburg zum "Brotkorb des Ruhrgebietes" haben werden lassen. Ab etwa der Jahrhundertwende spielte sich das Leben meiner Vorfahren in Sterkrade ab - zwischen der Restauration meiner Urgroßeltern "Zum Bergalten" am Kleinen Markt und der Gaststätte meiner Großeltern an der Grenze zu Osterfeld. Mein Vater wurde in Sterkrade geboren. Aber obwohl ich in der Nachbarstadt Mülheim a. d. Ruhr aufgewachsen bin, war mir Sterkrade lange Zeit ein ferner Ort. Traumatische Erfahrungen in der Kindheit und Jugend meines Vaters trugen dazu bei, dass er lange Zeit nicht über diesen Teil seines Lebens redete. Das änderte sich erst, nachdem ich 2003 per Zufall entdeckt hatte, welch tragische Familiengeschichte sich hinter seinem Schweigen verbarg. Ich begann Spuren zu suchen und dazu gehörte natürlich, dass ich mich näher mit der Geschichte der Familie Lehnkering in Sterkrade befasste.
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Eine Geschichte aus dem alten Sterkrade Im Verlauf meiner Spurensuche fand ich viele Geschichten, traurige, entsetzliche, aber auch skurrile, die mich zum Lächeln brachten. So bin ich beispielsweise vor einigen Jahren im Alt-Sterkrader Heimatkalender auf eine "Räuberpistole" gestoßen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Sterkrade abgespielt hat. Sie ist für mich unter anderem erzählenswert, weil dort die Rede von einem Polizeisergeanten namens Karl Lehnkering ist.
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Auf der Spur des Polizeisergeanten Lehnkering Als ich diese "Räuberpistole" aus dem alten Sterkrade 2011 zum ersten Mal las, versuchte ich herauszufinden, um wen es sich bei diesem ominösen Polizei-Sergeanten Karl Lehnkering handelte. Der Name Lehnkering ist eher selten, und daher konnte es sich eigentlich nur um ein Mitglied meiner Familie handeln. Aber der einzige mir bekannte Karl Lehnkering, ein Bruder meines Großvaters, war zum Zeitpunkt des Geschehens gerade mal zehn Jahre alt. Ich habe die Spur damals nicht weiter verfolgt, bis mich 2019 eine Anfrage des Oberhausener Polizeihistorikers Klaus van Dellen erreichte. Er war bei seinen Recherchen ebenfalls auf Unstimmigkeiten in Bezug auf die Person des besagten Polizeisergeanten gestoßen und bat mich um Auskunft. Nun war meine Neugier erneut geweckt. Das "Ermittlungsergebnis" stand schnell fest. Mit "kriminalistischem Spürsinn" und vor allem dank eines "Beweisfotos" der Sterkrader Polizeisergeanten aus dem Jahr 1899, das mir Herr van Dellen geschickt hatte, konnte der gesuchte Polizeisergeant eindeutig als mein Urgroßvater Wilhelm Fritz Lehnkering identifiziert werden. Seine Ähnlichkeit mit dem Sergeanten ganz rechts auf dem Polizeifoto war unverkennbar. Es blieb nur eine Schlussfolgerung, sein Name war vermutlich irgendwann mit dem seines Sohnes verwechselt worden. Bis 2019 war über das Berufsleben meines Urgroßvaters lediglich bekannt, dass er viele Jahre als Gastwirt in Sterkrade gearbeitet hat. Nun konnte seiner Person eine ganz unerwartete, neue Facette hinzugefügt werden.
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Wer war Wilhelm Fritz Lehnkering? Was ich sonst noch über meinen Urgroßvater weiß, beruht überwiegend auf genealogischen Daten, die mein Vater gesammelt hat. Wilhelm Fritz war der Sohn des Malermeisters Heinrich Lehnkering aus Arnheim und seiner Frau Elise Hesselmann aus Crudenburg (geb. in Hünxe, Kr. Wesel am Niederrhein). Wilhelm kam am 18. April 1863 in Duisburg-Ruhrort zur Welt. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, als er am 22. August 1885 die neunzehnjährige Margarethe Caroline Minhorst (gen. Lina) heiratete. Lina (geb. 14.2. 1866 in Mülheim-Speldorf) starb am 7.10.1920 im Alter von 54 Jahren in Sterkrade. Laut Sippentafel erlag sie einem Herzanfall. (... mehr zum äußerst fragwürdigen Thema der Sippentafel in meinem Buch) Das Paar hatte zwei Söhne, meinen Großvater Heinrich Friedrich Hermann (gen. Fritz) (10.10.1886 - 9.12.1921) und Karl (1888 – 1973). Die Kinder Ernst, Luise und Paula starben schon im Kindesalter - grausam für die Eltern und nicht selten in Zeiten hoher Kindersterblichkeit. Wilhelm wurde 60 Jahre alt. Er starb am 7. Juni 1923 in Sterkrade. In der Sippentafel ist vermerkt, dass er zuckerkrank war und dass sein Tod durch einen Schlaganfall verursacht wurde. Meine Recherchen im Sterkrader Adressbuch von 1902 ergaben, dass Wilhelm damals mit seiner Familie in der Marktstraße 14, heute Steinbrinkstraße, wohnte. Sein Beruf ist als Reisender angegeben. Anscheinend hatte er seinen Posten als Polizeisergeant irgendwann um die Jahrhundertwende aufgegeben. Der "reisende" Wilhelm arbeitete inzwischen als Generalvertreter für die Essener Korn- und Cognacbrennerei, sowie Likörfabrik Felix Rauter (Kgl. Hoflieferant), die den Trinkbranntwein "Bergalten" destillierte. Aus dieser Tätigkeit ergab sich wohl sein weiterer beruflicher Weg. Im Adressbuch von 1904 ist Wilhelm (genannt Bergalten's-Wel'm) erstmals als Gastwirt in der Restauration "Zum Bergalten" am Kleinen Markt 2 verzeichnet. Was meinen Urgroßvater dazu bewogen hat, seine "Karriere" im Polizeidienst aufzugeben, bleibt im Dunkeln. Wollte er seinen Kopf nicht weiter für das kärgliche Gehalt eines Polizeisergeanten hinhalten? Sah er für sich und seine Familie eine bessere Zukunft als Gastronom? Auf jeden Fall begründete er eine Familientradition, denn beide Söhne arbeiteten später ebenfalls als Gastwirte. Mein Großvater Fritz übernahm außerdem vom Vater die Vertretung für die Firma Rauter. Ansonsten ist nichts weiter über Wilhelm überliefert. Wer er wirklich war? Wie er war? Vielleicht ein geselliger Mensch und schon immer "geistigen" Getränken und "reinen" Weinen zugetan, von denen 1908 in einer Werbung für seine Gaststätte die Rede war. Das Foto des etwas beleibten Mittdreißigers zusammen mit seinem Polizeikollegen Röpling könnte dies nahelegen. Wer weiß ...?!
Gaststätten der Familie Lehnkering in Sterkrade |
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1905 Sterkrade, Am Kleinen Markt
(Mitte links die Restauration "Zum Bergalten") |
1929 Sterkrader Kriegerdenkmal |
Sterkrade, Kleiner Markt |
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"Zum Bergalten" am Kleinen Markt Die Gaststätte "Zum Bergalten" meiner Urgroßeltern befand sich am Kleinen Markt in der historischen Mitte von Sterkrade. Unweit des Hauses befand sich das Kriegerdenkmal, wo alljährlich die patriotische Feier des Kriegervereins mit viel Tschingderassabum und Fahnenschwenken stattfand. In einer Werbung von 1904 ist über das vermutlich kurz zuvor eröffnete Haus zu lesen: „Zum Bergalten, Sterkrade am Krieger-Denkmal, ff. Schulten-Bräu u. prima Bergalten, div. Schnittchen, W. Lehnkering, Gen. Bergalten‘s Wel‘m." Wirtschaftlich ging es für die Gastwirtsfamilie bergauf. Die industrielle Expansion im Ruhrgebiet hatte während des Kaiserreichs einen enormen Zuzug von Arbeitern mit sich gebracht. Nach der schweren körperlichen Arbeit unter Tage, an den Hochöfen und in den Maschinenwerken war das Verlangen nach Zerstreuung groß, was nicht zuletzt eine einträgliche Marktlücke für die Gastronomie bedeutete. Am Kleinen Markt profitierte man außerdem von der der „gehobenen" Stammkundschaft, darunter höhere Angestellte aus dem nahen Verwaltungsgebäude der Gutehoffnungshütte und gut situierte Geschäftsleute aus der Nachbarschaft. Die Gaststätte wurde später von Karl, dem Bruder meines Großvaters, übernommen. Karl war mit Helene Sommer, einer Schwester meiner Großmutter verheiratet. Das Paar führte die Gaststätte noch bis in die 60er Jahre.
Meine Großeltern
- eine große Liebe, die tragisch endete ...
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Anna Johanna Helene L. geb. Sommer (1887 - 1966) |
Heinrich Friedrich Hermann Lehnkering (1886 - 1921) |
1915/16 Anna L. und ihre Kinder | ||||||
Gaststätte in der Osterfeldstraße (ab 1929 Vestische Straße) | ||||||||
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Gaststätte in der Osterfeldstraße 64 (ab 1929 Vestische Str. 189) © Archiv K.v.Dellen |
Anfang der 30er Jahre Gaststätte an der Vestischen Straße (hinter dem Tresen meine Großmutter Anna L.) |
Der Festsaal |
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Werbung von 1908
Zurück ins Jahr 1910, Anna und Fritz starteten voller Optimismus und Tatendrang ins Familien- und Geschäftsleben. Es war eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs und unbegrenzten Fortschrittsglaubens. Immer höher, schneller, weiter hieß die Devise. Und anfangs florierte die Gastwirtschaft - auch wenn sie nicht die gutbürgerliche Lage hatte wie die Restauration am Kleinen Markt. Wie aus der nebenstehenden Werbung aus dem Jahr 1908 hervorgeht, hat mein Urgroßvater Wilhelm die Gastwirtschaft in der Osterfeldstraße in den Jahren vor der Geschäftsübernahme durch seinen Sohn ebenfalls unter dem Namen "Zum Bergalten" betrieben. Scheinbar hat er - zumindest namentlich - eine Zeitlang zwei Gaststätten parallel geführt. In der Werbeanzeige für das Haus an der Osterfeldstraße heißt es: »Restauration zum Bergalten, ff. Bier aus dem Sterkrader Brauhaus, Spezialität des Hauses ›Bergalten‹, Reine Weine, Billard, Gesellschaftszimmer mit Klavier und kleiner Saal mit großartigem elektrischen Orchestrion zur Abhaltung von Familienfestlichkeiten«. Als meine Großeltern die Gaststätte übernahmen, boomte die Gründung von Vereinen. Ob Gesangsvereine, Turnvereine, Schützenvereine, Bürger- und Arbeitervereine, Kriegervereine und bald die ersten Fußball- und Taubenvereine – gefeiert wurde oft und gerne. An den Wochenenden fanden häufig Tanzveranstaltungen im Saal statt, bei denen Klavier und Schlagzeug auf dem Podium zum Einsatz kamen. Zu besonderen Anlässen wie Karneval wurde der Raum mit Girlanden, Papierblumen und Lampions geschmückt. Auf dem nebenstehenden Foto liest man auf einem Transparent an der Rückseite des Saals das fragwürdige Motto »Trinke, liebe, rauche, bis zum letzten Hauche«. Die Gaststätte lag nicht weit entfernt von den traditionellen Bergarbeitersiedlungen Stemmersberg und Eisenheim. Neben kleinen Gewerbetreibenden aus der Umgebung, dem Metzger, Friseur, Schneider oder Schornsteinfeger, gehörten viele Arbeiter und Angestellte der Zeche zu den Gästen. Das brachte zwar zeitweilig den erhofften Umsatz, aber der Betrieb war andererseits auf Gedeih und Verderb von der konjunkturellen Lage der Eisen- und Stahlindustrie abhängig. Jede wirtschaftliche Krise machte sich im Geldbeutel der Familie bemerkbar. Meine Großmutter hat später viele Jahre gegen die wirtschaftlichen Probleme angekämpft. Schon während des ersten Weltkrieges musste sie sich und ihre Kinder in Abwesenheit ihres Mannes alleine durchbringen und hatte wie alle mit den Auswirkungen der Kriegswirtschaft zu kämpfen, mit Lebensmittelrationierungen und Hungersnot. Und auch nach Kriegsende 1918 herrschen weiterhin Not und Elend im Ruhrrevier. Dazu traf die Familie mit dem frühen Tod meines Großvaters 1921 ein schlimmer Schicksalsschlag. Das jüngste von vier Kindern, mein Vater, war gerade ein Jahr alt. Das Leben meiner Großmutter war mühsam und leidvoll. (... mehr dazu in "Annas Spuren") Sie versuchte, sich in dem von Männern dominierten Umfeld der Gastwirtschaft zu behaupten, doch infolge der verheerenden Weltwirtschaftskrise und aufgrund gravierender privater Probleme musste sie die Gastwirtschaft 1934 aufgeben.
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Was aus den Häusern meiner Vorfahren in Sterkrade wurde? Die Gaststätten meiner Ur- und Großeltern befanden sich in Gebäuden mit Erkern, Türmchen und Stuckfassaden – erbaut im typisch wilhelminischen Stil. Die Zeit ist darüber hinweggegangen. Das Haus an der Vestischen Straße existiert zwar noch, ist allerdings kaum wieder zu erkennen. Das Grundgerüst, wie auch den Saalanbau, kann man erahnen. Türmchen, Stuck und Erker wurden durch Fassadenrenovierungen gründlich beseitigt. Ob zum Besseren, bleibt Geschmackssache. Die alten Häuser am Kleinen Markt stehen schon lange nicht mehr und das Kriegerdenkmal ist längst abgerissen. Nur noch der traditionsreiche Wochenmarkt erinnert an die alten Zeiten, als sich hier die gutbürgerliche Mitte von Sterkrade befand. 1980 fielen die letzten alten Gebäude der Spitzhacke zum Opfer, darunter die Gastwirtschaft "Zum Bergalten". Danach entstand ein trister und öder Stadtplatz, wo sich in den Folgejahren soziale Probleme häuften. Zurzeit wird nach meinen Informationen an einem Konzept für die zukünftige Gestaltung der Sterkrader Innenstadt gearbeitet. Sie soll "schöner, grüner und belebter" werden. Ein Fokus liegt auf dem Kleinen Markt, der mithilfe der neuen Planung ein "Treffpunkt und attraktiver Aufenthaltsraum" werden soll. Es kann nur besser werden!
Kürzlich habe ich übrigens mit
großem Interesse und Vergnügen den historischen Kriminalroman Sigrid Falkenstein, Berlin 2019 |
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