Warum zog es Fritz in die weite
Welt?
ca. 1900, Friedrich (2. Reihe Mitte)
mit Eltern und Geschwistern
Was
trieb meinen Großvater Friedrich Schmidt, einen einfachen Bauernjungen aus
dem abgelegenen Westerwälder Dörfchen Hirschberg, Anfang des letzten
Jahrhunderts nach Afrika? War es die Abenteuerlust eines jungen
Burschen, dessen Dorf man nur zu Fuß, mit dem Fuhrwerk oder der
Kutsche erreichen konnte und das in schneereichen Wintern manchmal
tagelang völlig von der Außenwelt abgeschnitten war? Als Friedrich
1904 Richtung Afrika aufbrach, war er 24. Noch hatte das kleine Dorf
mit knapp 200 Einwohnern keine öffentliche Straßenbeleuchtung. Erst
ein Jahr später wurden zwei Petroleumlampen am Spritzenhaus und an
der alten Schule angebracht, die der Gemeindediener in seiner
Funktion als Nachtwächter jeden Abend anzündete. Bis der erste
elektrische Strom floss, sollte es weitere 17 Jahre dauern.
Vielleicht wollte Friedrich der Enge seines Heimatdorfes
entfliehen und die verheißungsvolle, weite Welt jenseits der
Hügel des Westerwalds kennenlernen? Mag sein, dass dies alles eine
Rolle spielte, aber - so hat man es mir erzählt - entscheidend war
Friedrichs Liebe zu Martha Lehwalder, eine Liebe, die man ihm anfangs
verwehren wollte. Schon lange war er in Martha, ein Mädchen aus dem
Dorf, verliebt. Doch seine Eltern hießen eine Heirat nicht gut, denn
die Auserwählte stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Seine Familie
dagegen betrieb eine Landwirtschaft und galt als verhältnismäßig
wohlhabend. Dies wurde unter anderem dadurch zur Schau gestellt,
dass man sonntags in der eigenen Kutsche zum Gottesdienst
nach Haiern ins Heimatdorf der Mutter fuhr - natürlich
herausgeputzt in Westerwälder Tracht.
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"Für Kaiser und Vaterland" ...
Friedrich als junger Soldat
Im Streit mit den Eltern wegen
seiner unstandesgemäßen Liebe meldete sich der junge Heißsporn
Friedrich voller Trotz als Freiwilliger zum Militär und zog "für
Kaiser und Vaterland" nach Deutsch-Südwestafrika, dem
heutigen Namibia. Er gehörte zur "Kaiserlichen Schutztruppe",
die von 1904 bis 1908 den Aufstand der Herero und Nama
gegen die deutsche Kolonialherrschaft brutal niederschlug und dort den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts
verübte - ein Völkermord, der
übrigens bis heute nicht von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt wird.
Erst seit wenigen Jahren entwickelt sich in Teilen der
Gesellschaft langsam ein Bewusstsein für den deutschen Kolonialismus und
seine Folgen.
Was ging im Kopf des jungen Friedrich
vor, wenn Soldaten auf Frauen und Kinder schossen oder sie von den
Wasserstellen vertrieben, so dass sie elendiglich verdursten
mussten? Empfand er Mitgefühl für die gequälten Menschen oder fügte
er sich den Anordnungen der Offiziere ohne weiter nachzudenken?
Gehörte er etwa zu denjenigen, die davon überzeugt waren, dass ihnen
als "Herrenmenschen" jedes Recht zustand? Ich weiß es nicht. Über
seine Gedanken und Gefühle hat er nie
gesprochen, schon gar nicht mit seinen zahlreichen Enkelkindern.
Allerdings sprechen die abenteuerlichen Geschichten aus Afrika, die
er bis ins hohe Alter erzählte, dafür, dass ihn das Erlebnis wohl
zeit seines Lebens nicht losgelassen hat.
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Das Haus, in dem Fritz und Martha mit
ihrer Familie lebten
Auf
jeden Fall war seine Familie froh, als er aus Afrika heimkehrte und
1908 "durfte" er seine Martha endlich
heiraten. Die gemeinsame Tochter war da bereits drei Jahre alt, neun
weitere Kinder folgten. Friedrich und Martha kannten sich ihr ganzes
Leben. Die Ehe der beiden sollte bis zu Marthas Tod 1956 noch
achtundvierzig
Jahre dauern. Zusammen mit Martha brachte er die
große Familie mehr schlecht als recht über die Runden. Da der
größere Teil der elterlichen Landwirtschaft von einem Bruder
Friedrichs übernommen worden war, blieb ihm - wie so vielen
nachgeborenen Söhnen - nichts anderes übrig, als außerhalb des
Dorfes den Unterhalt für die eigene Familie zu verdienen. Nach dem
Besuch der Hirschberg Dorfschule hatte Friedrich in den "Burger
Eisenwerken" in Herborn das Schlosserhandwerk erlernt. Er arbeitete
später unter anderem auf der "Sinner Hütt" und in einer Erzgrube in
der Nähe von Heiligenborn.
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Leben im
Dorf
Der folgende Text beschreibt anschaulich
die damaligen Lebensverhältnisse vieler Menschen im Lahn-Dillgebiet:
"...
Nur mit zusätzlicher Arbeit im Hütten- oder Bergwerk war ein
bedürfnisloses und bescheidenes Leben möglich. Die nicht leichte
Arbeit in der Landwirtschaft musste nach Feierabend nebenbei
erledigt werden. Gleich nachdem der Kleinlandwirt von der Arbeit
nach Hause kam, warteten noch die schwereren Arbeiten im Feld und
Hof auf ihn, die seine Frau und die Kinder tagsüber nicht ausführen
konnten. Dass sich jemand nach getaner Arbeit im Hüttenwerk oder
Bergwerk einfach nur ausruhte, das gab es nicht. Der Jahresurlaub
wurde genommen, wenn die Heu- und Getreideernte anstanden oder wenn
im Herbst die Kartoffeln (Kartoffelernte) und
der Dickwurz ausgemacht werden mussten. Es war selbstverständlich,
dass die Kinder, spätestens ab dem 10.Lebensjahr, bei allen
landwirtschaftlichen Arbeiten helfen mussten. Die Schulferien hießen
auch so, „Ernteferien“ (Sommerferien) und „Kartoffelferien“
(Herbstferien). Die Kinder wurden bei der Ernte dringend gebraucht,
das war ursprünglich auch der Grund für die Einführung dieser
Schulferien. Urlaub war für diese Familien unbekannt.
Bis in die 50er/60er Jahre des
vorigen Jahrhunderts hinein waren die Dörfer dieser Region von der
„Feierabend-Landwirtschaft / Nebenerwerbs-Landwirtschaft“ geprägt."
(Quelle: Wikipedia)
Doch trotz aller Entbehrungen künden
die Kindheitserinnerungen meiner Mutter von einer überwiegend heilen
Welt, die geprägt war von Frömmigkeit, Geborgenheit in der Familien-
und Dorfgemeinschaft, viel Gesang und Liebe zur Natur.
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Fritz - der Tausendsassa
Friedrich war die Frömmigkeit seiner
Vorfahren irgendwann - vielleicht in Afrika - abhanden gekommen. Das
hinderte ihn nicht daran, als Küster die Glocken der Dorfkapelle zu
läuten. Während des Gottesdienstes verschwand er gerne, was ihm
stets einen Tadel seiner gottesfürchtigen Frau einbrachte, die ein
schlimmes Ende für ihren "gottlosen" Mann prophezeite. "Eiduläiwörallmächtichergott!"
Das Glockenläuten war eine seiner
Aufgaben als zeitweiliger Gemeindediener. So ging er auch - wie
damals üblich - mit einer Schelle durchs Dorf, um die neusten
Nachrichten auszurufen. Außerdem heizte er das dörfliche Backhaus
ein. Nie in meinem Leben habe ich besseres Brot, Riwwel- oder
Quetschekuchen gegessen!
Friedrich war in jeder Beziehung
geschickt, flickte Kessel und Töpfe, machte Schmiedearbeiten - nicht
nur für die Familie. Für uns Kinder tischlerte er Puppenwiegen und
Holzstelzen.
Kürzlich
fand ich das Gesicht meines Großvaters auf dem Gründungsbild der
freiwilligen Feuerwehr im Jahr 1925 - ein wahrer "Hans Dampf in
allen Gassen". Ja, er war ein Tausendsassa,
aber auch ein
Hallodri.
Martha - die Seele der Familie
Martha, geb. Lehwalder (20.1.1884-28.7.1956)
Wie so viele Frauen im Dorf
trug meine Oma Martha die Hauptlast für das Gelingen des
täglichen Lebens. Aufgewachsen mit vielen Geschwistern in
einem kleinen, beengten und
dunklen Häuschen waren Armut und Tod lebenslange Begleiter.
Sie war fünf, als ihre Mutter im Kindbett starb. Das zehnte Kind
kam tot zur Welt. Auch Martha gebar zwischen 1905 und 1922 zehn
Kinder. Meine Mutter war die Jüngste. Ihre tiefe Frömmigkeit half
Martha
über viele Schicksalsschläge hinweg, nicht zuletzt über den Tod ihrer Kinder. Drei starben im Kindesalter, ihre zwei Söhne
fielen im Zweiten Weltkrieg -
ein immerwährender Kummer für sie. Marthas Schmerzensschrei, als man
ihr die Todesnachricht überbrachte, blieb meiner Mutter für immer im
Gedächtnis. Das Mutterkreuz, das Martha auf dem Foto trägt, spricht
der unmenschlichen Ideologie, der ihre Söhne zum Opfer fielen, Hohn.
Gemäß der NS-Ideologie wurde es kinderreichen Müttern verliehen. Um
der Auszeichnung "würdig" zu sein, mussten sie "sittlich einwandfrei"
und wie ihre Kinder "erbgesund" und "deutschblütig" sein. Was für
ein menschenverachtendes Gedankengut!
Nachdem eine
der Töchter das Elternhaus übernommen hatte, verbrachten
Martha und Friedrich ihre letzten Lebensjahre in einer
winzigen Dachkammer, direkt neben dem Taubenschlag. Das
Gurren der Tauben, das Bullern des Öfchens - ich kann's noch
heute hören! Bis zu ihrem Tod war Martha von ihrer Familie
umgeben und bekam viel von der Liebe zurück, die
sie ihren Kindern gegeben hatte. Bei meinen
Besuchen in Hirschberg sah ich meine Oma immer im dunklen Kleid mit Schürze, die Haare streng
gescheitelt, mit Dutt im Nacken, oft mit Kopftuch. Für mich
war sie alterslos. Sie war lieb,
bescheiden und völlig uneitel - typisch, dass es kaum Fotos
von ihr gibt. Martha war die Seele der Familie! Sie starb im
Sommer 1956. Ihre älteste Tochter folgte ihr nur einen Tag
später. Sie wurden nebeneinander auf dem Hirschberger
Friedhof begraben. |
Fritz Patt - der
Geschichtenerzähler
Friedrich Schmidt
(5.7.1880 - 5.4.1974)
Mit ihrem Ehemann hatte Martha Goll
es nicht immer leicht. So ging er eines Tages mit dem
sauer ersparten Geld nach Herwen (Herborn) auf den Markt, um
eine Ziege zu kaufen. Zurück kam er - zur Freude der Kinder
- mit einem Hund.
Friedrich Schmidt hatte viele
Namen.
Er wurde wurde "Fritz Patt", aber auch "Petris
Fritz" genannt. Es war in der Gegend
durchaus üblich, Familien nach dem Vornamen eines Vorfahren zu
benennen, in diesem Fall vielleicht nach dem Vorfahren
Peter
Schmidt, vielleicht gehörte aber auch der 1720 im Zusammenhang mit
Abrechnungen für den Hof Hirschberg erwähnte Verwalter namens
Petri zu seinen Vorfahren. Jedenfalls trank
Petris Fritz
später gerne einen über den Durst und wurde darum manchmal auch "de bloo Fritz" genannt. Vor allem aber hielt sich sein Spitzname "de
Afrikaner", denn bis ins hohe Alter erzählte er Schauergeschichten
über seine Zeit in Afrika - zum Beispiel über Riesenschlangen, die
angeblich in sein Zelt gekrochen waren. Vor einigen Jahren
berichtete mir ein Hirschberger, dass "de Afrikaner"
zur Gaudi der Dorfjugend ab und zu den Schrei der afrikanischen Hyänen nachmachte, so dass es durchs halbe Dorf schallte. Ob
er dabei jemals an die Gräueltaten in Afrika dachte, die er
viele Jahrzehnte zuvor mit angesehen hatte oder an denen er gar beteiligt
war? Es ist eher zu vermuten, dass er diese Erlebnisse aus seinem Gedächtnis
verdrängt und gelöscht hatte. Am Ende blieben vor allem die
Erinnerungen an die tatsächlichen oder erfundenen Abenteuer mit den
wilden Tieren auf dem afrikanischen Kontinent.
Überhaupt war Petris Fritz ein
Geschichtenerzähler vor dem Herrn. Eine der Geschichten ging so:
Eines Abends wurde er auf dem Nachhauseweg von Beilstein nach
Hirschberg im Wald von einer Rotte Wildschweine verfolgt. Um sein
Leben zu retten, blieb ihm nur die Flucht auf einen Baum. Dort saß
er ganz oben - die Wildschweine unten - bis zum nächsten Morgen.
Dann endlich kamen die ersten Waldarbeiter und die Wildschweine
verzogen sich.
Ob all seine Geschichten stimmten -
wer weiß? Bleibt hinzuzufügen, dass er sie auf
Hörschbeijer
Platt (Wäller
Platt)
erzählte, mit verschmitztem Gesicht, den unvermeidlichen Hut auf dem
Kopf und immer ein Pfeifchen schmauchend. Ich glaube nicht, dass er
überhaupt "fiernehm schwetzen" konnte.
Als er 1974 im Alter von fast 94
Jahren starb, hinterließ er fünfzehn Enkel und Enkelinnen.
Inzwischen hat er mehr als dreißig Urenkel und Urenkelinnen und
natürlich Ururenkelkinder. Die meisten Nachkommen sind inzwischen in die weite Welt
gezogen und leben überall verstreut. Ihr Vorfahr hat den
Dillkreis nach seinem Abenteuer in Afrika allerdings nur noch einmal
gezwungenermaßen verlassen. Im ersten Weltkrieg wurde er zusammen
mit 21 jungen Männern aus dem kleinen Dorf zum Kriegsdienst
eingezogen. Acht Hirschberger starben im Krieg oder an den Folgen.
Ein hoher Tribut und Grund genug für Friedrich, sein Dorf nie mehr
zu verlassen. Seine Lust, jenseits der Höhen des Westerwalds nach
Abenteuern zu suchen, war gründlich gestillt.
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Hirschbergs ältester Bürger wird
90 Jahre
Zum 90sten Geburtstag im Juli 1970
wurde Fritz als ältester Bürger Hirschbergs mit einem
Artikel im
Herborner Tageblatt gewürdigt.
(Dank an das
Redaktionsarchiv des Herborner Tagesblatts für den Artikel
vom 25. Juli 1970)
Natürlich brachte auch der
Männergesangverein "Germania
Hirschberg" (Anm. Der Verein stellte 2020 seine Arbeit ein) dem Jubilar ein Ständchen. Friedrich war dem 1907
gegründeten Gesangverein lange Jahre als Sänger und bis ins hohe
Alter als Ehrenmitglied verbunden. Zum Repertoire des Vereins
gehörte auch das Lied über die schöne Heimat. Ich bin sicher, dass
mein Großvater es voller Inbrunst mitgesungen hat.
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
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In der Heimat ist es schön, Auf der
Berge lichten Höh'n, Auf den schroffen Felsenpfaden, Auf der
Fluren grünen Saaten, Wo die Herden weidend geh'n. In der
Heimat ist es schön!
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In der
Heimat ist es schön, Wo die Lüfte sanfter weh'n, Wo des Baches
Silberwelle Murmelnd eilt von Stell' zu Stelle, Wo der Eltern
Häuser steh'n. In der Heimat ist es schön! |
In der Heimat ist es schön, Wo ich
sie zuerst geseh'n, Wo mein Herz sie hat gefunden, Ewig sich
mit ihr verbunden; Dort werd' ich sie wiederseh'n.
In der Heimat ist es schön!
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